Japan, deine... Steine?

Tokyo mag zwar ein Lebensraum von über 30 Millionen Menschen sein, doch ist die Metropole alles andere als eine homogene Masse. Was jedoch alle Areale dieser Stadt gemeinsam haben, ist eine komplexe Struktur, die unter der Oberfläche verborgen liegt und wie ein mysteriöses Uhrwerk den Grundfeiler für das scheinbar selbstverständlich funktionierende, alltägliche Leben bildet. Einen Blick hinter diese Fassade aus Perfektion ist besonders für Ausländer schwierig zu erhaschen, jedoch eröffnet sich ein Fenster zu dieser versteckten Welt in einem unscheinbaren Element der Stadt- und Gartenarchitektur: Den... Steinen! Worin diese Erkenntnis begründet liegt, ist unter anderem Thema dieses Beitrages.

 

Zum einen sind Mineralien, integriert in die mit Firmenlogos und Leuchtreklamen gespickten Glassfassaden und Wolkenkratzer ein Teil berechneter Funktionalität. Die Fassaden wirken poliert, und kein Winkel ist zu versteckt für die öffentlichen Säuberungskolonnen. In diesen Arealen findet sich in geometrisch angeordnetem Grün kaum ein Hinweis auf die Wechselwirkung der japanischen Gesellschaft mit der Unberechenbarkeit der Natur.

Die Nahtlosigkeit dieser funktionierenden Welt scheint wie von selbst entstanden zu sein und die Gesellschaft fügt sich mit ihrem Verhalten harmonisch in diese Idee ein. Nimmt man sich die Zeit für eine nährere Betrachtung des tonnenschweren Konstruktionsmaterials solcher Orte, wie es aus rohen Fragmenten poliert, angeordnet und geformt wurde, bekommt man eine Idee von dem mechanischen und intellektuellen Aufwand, der in die Konstruktion der Szenerie investiert wird. Einem aufmerksamen Auge wird die Arbeit, die mit der Erbauung solcher Stadtlandschaften verbunden ist, nämlich nicht entgehen. Versteckte Schreine und ganz besonders Gärten (niwa) und Parks (kouen) erweitern diese Dynamik, und lassen sich überall in Tokyo finden. Denn elementar für diese ästhetischen Teile der Stadtlandschaft sind sie ebenfalls, die Steine. Noch immer das gleiche Grundmaterial, sind sie hier nicht reduziert auf ihre Funktion, sondern bewundert für ihre Identität als jahrtausendealte Relikte, als eine Art Pfad in die eigene Gedankenwelt, zum Innehalten und Reflektieren. Aber auch hier sind sie sie nicht nur ein Spiegel geologischer Zeitalter, sondern auch logistischer Meisterleistungen.

Eine der vielen Enklaven, in denen das sichtbar wird, ist der Kiyosumi-Shirakawa Garten, der sich mit seiner Lage direkt an der gleichnamigen U-Bahn Station ein sehr ineffektives Versteck ausgesucht hat. Konstruiert in der Kyohou Zeit, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, widmete Iwasaki Yataro, der Gründer von Mitsubishi diesen Garten Ende des 19. Jahrhunderts der Öffentlichkeit als Erholungsfläche. Die dort zu findende Naturbezogenheit, verkörpert durch Wiesen, Bonsais, eitle Schildkröten, sehr gefrässiger Koikarpfen und die dafür umso erhabeneren Kraniche, hat oberflächlich nichts mit der modernen Welt Japans gemeinsam. Wandert man aber über die so intuitiv angelegt aussehenden Felspfade (iso watari) an und über den angelegten Teich (iku) sollte einem bewusst sein, dass auch hier nichts dem Zufall überlassen wurde. Jeder dieser vermeintlich zufällig platzierten Steine wurde aus ganz Japan in feinsinniger Augenarbeit ausgewählt und dann per Wasserweg zu der jetzigen Liegestätte befördert. So unerwartet es deshalb ist, illustriert die vielseitige Verwendung dieser Ressource tatsächlich einen der zentralsten kulturellen Eckpfeiler des japanischen Denkens: Die oberflächliche Einfachheit kann nur durch ein subtiles, aber beträchtliches Maß an menschlichem Arbeitsaufwand realisiert werden, der für Aussenstehende zwar überall Anzutreffen, aber nur mit besonderer Aufmerksamkeit auch bewusst wahrnehmbar ist.

 

Text: Angelina Frank

Bilder: Angelina Frank

            Andreas Langsdorff