Die Japanische Kirschblüte – ein kultureller Wirbelwind in Rosé

Wenn ganze Heerscharen an Picknickdecken die Parks und Grünflächen Japans besetzen, wenn der Anteil an fremdsprachigen Konversationen in Bahnen und auf öffentlichem Gelände sein jährliches Maximum erreicht, wenn die Luft erfüllt ist von den den Düften gegrillten Proteins (yakiniku) und wenn die Regale von Cafés, Geschäften und Restaurants dominiert werden von rosanen Elementen und Dekorationen dass manch‘ einer seine Farbwahrnehmung hinterfragen möchte, dann weiß ein jeder, es ist soweit: Bügelt die Picknickdecken, poliert die Esstäbchen (hashi), leert die Speicherkarten eurer Kameras: Die Kirschblütensaison (hanami) hat begonnen.

Mit einem botanischen Spektrum von über hundert verschiedenen Arten und einer Blütenzahl, die von fünf bis in die Hunderte reicht, sei eine detailliertere Bezeichnung hier aus Zeitgründen umgangen. Sie alle haben allerdings die charakteristische Kerbe in den Blütenblättern und eine rosa-weiße Färbung (mit der gelben «Ukon»-Variation als Ausnahme) gemeinsam, die in hundertfach verschiedenen Ausführungen auf Gebrauchswaren aller Art zu finden ist.

Die Kirschblüte ist inzwischen so essentieller Bestandteil der japanischen Kommerz- und Kulturlandschaft, dass es eine beträchtliche Herausforderung für die menschliche Vorstellungskraft ist, eine Zeitalter ohne sie zu erdenken. Ihre Beginne liegen in der Tat schon das ein oder andere Jährchen zurück: Zu finden sind die Wurzeln in der Nara Periode (8. Jh n. Chr.), in der eigentlich den Blüten der Pflaumenbäume (ume no ki) gehuldigt wurde.

Doch, wie so häufig, wurde im Laufe der Zeit die Bescheidenheit von Prunk überdeckt und die deutlich pompösere Kirschblüte ersetzte innerhalb eines Jahrhunderts die Vorherrschaft der Pflaumenblüte, und ist seit der Heian Periode das Synoym dieser Zeit.

Heutzutage ist die Kirschblütenzeit ein Sinnbild für das gemeinsame Picknicken mit Bekannten und wird, typisch für Japan, untermalt von saisonbedingten Köstlichkeiten. Ein typischer Picknickkorb enthält neben dem omnipräsenten (gefüllten) Reisbällchen (Onigiri), frittierten Hühnchen (karaage), süßem Fischkuchen (Kamaboko), Miso suppe (miso shiru), japanischem Reiswein (nihonshu) und zahlreichen anderen gut teilbaren Speisen, insbesondere Kirschblüten-Reiskuchen (sakura mochi/dango), eingewickelt in ein salziges Kirschblütenblatt und mit einer sehr charakteristischen, blumigen Note, die sich leicht auch in Eiscreme, Pfannkuchen, Muffins, Frappuccinos, Reisbällchen und Softdrinks einarbeiten lässt. Der Fantasie sind in Japan bekanntlich wenig Grenzen gesetzt und für die kulinarische Interpretation der Kirschblüte ist dies einmal mehr der Fall.

Obwohl das Kirschblütenfest (Hanami) oder wortwörtlich die Blumenbetrachtung (Hana = Blume, Mi = Ansehen) zu heutiger Zeit zu einem der größten naturbezogenen Massenevents Japans zählt, sind die Ürsprünge dieses Festes doch von friedlicher, philosophischer Natur. Ursprünglich stand nicht der Genuss von Köstlichkeiten, Getränken und Konversation im Mittelpunkt, sondern das Beobachten einer Parabel auf die (menschliche) Existenz und deren Vergänglichkeit.

In westlichen Kreisen über Jahrhunderte illustriert durch lateinische Phrasen wie «memento mori» (Gedenken dem Tode), wird diese Vergänglichkeit in Japan verkörpert durch den Kontrast zwischen der einzigartigen Schönheit der Kirschblüte und deren Kurzlebigkeit. Es ist birgt durchaus ein wenig Ironie in sich, dass ein Fest zur Versinnbildlichung des immaterialistischen Wertes des Lebens zu einem der grössten Magneten des Kommerzes und Konsums geworden ist. Wobei man hier anmerken muss, dass sich diese beiden Elemente hier zugebenermaßen sehr gut ergänzen: Nach einem ausgedehnte Hanami Picknick mit Freunden, Verwandten oder Arbeitskollegen ist sicherlich die ein oder andere Person froh über eine kurzzeitige Preisschildamnesie... denn zu kaum einer anderen Jahreszeit bereitet der Erwerb von Lebensmitteln und Dekoration so viel Freude, wie zu dieser. Die angebotenen Lunchboxen («hanami bento»), Textilien und Dekoartikel werden nämlich in der Tat mit solch einer künstlerischen Rafinesse angefertigt, dass es eine ungeahnte Freude bereitet, die Saison in ihrer ganzen Fülle «auszukosten».


Ob also spirituell motiviert oder ganz weltlich: Umgeben von hellen Blütendächern, guter Gesellschaft und köstlicher Delikatessen ist es kaum ein Wunder, dass die Kirschblütenzeit zu den unangefochtenen Jahreshighlights eines jeden Japaners sowie Touristen zählt.

Text: Angelina Frank
Bilder: Angelina Frank und Yiyue Jiang