Japans Papierwirtschaft

Japan ist ein Land, in dem Papier (kami) schon seit Jahrtausenden einen hohen Stellenwert in jedem Lebensbereich einnimmt. Es wird als Trennwand (shooji) in Häusern und Hütten verbaut, ist ein Medium für Kalligraphie, Malerei und Origami, wird in den ausgedehnten Sommermonaten in seiner gespannten oder gefalteten Form (uchi) zur Vermeidung von Hitzschlägen in Oszillation versetzt, und ziert mit kunstvollen Aufschriften als Laterne (toro) den Eingang eines jeden Tempels und vieler gastlicher Einrichtungen (izakaya). Hat es seinem Zweck gedient, wird es im Falle von Milch- oder Saftkartons vor der Beförderung in die Mülltüte sogar gewaschen und an der Wäscheleine getrocknet, und in besonderen Fällen des Nachbarschaftswettstreits sogar... gebügelt. Nicht zuletzt wird Papier in der national gewissenhaft durchgeführten Mülltrennung liebevoll von allem «nicht brennbarem» Abfall separiert. Koryphäen brauchen ihren Freiraum.

 

Aus dieser Achtsamkeit bei der Zelluloseverwertung könnte man es sich fast erschliessen: Japan liebt Papier in allen Formen, Farben und Funktionen. Seine prominenteste Funktion ist hier jedoch noch nicht erwähnt worden. In dieser ist es sowohl in der Fraglichkeit seiner Effektivität, als auch in seiner Gebrauchsmenge nur von der inflätionär eingesetzen Plastiktüte übertroffen.

 

 

 

Es geht um – die Bürokratie. Aufgewachsen in der deutschen Kultur- und somit Amtslandschaft, sind meine Standards für dieses Wort hoch gesetzt, ist Deutschland doch weit über seine Grenzen bekannt für hauptsächlich drei kulturelle Schätze: Das bier- und schnitzelbehaftete Oktoberfest, geschwindigkeitsliberale Autobahnen und ein rigoros dokumentbehaftetes Verwaltungswesen. Das glänzt an vielen Stellen mit Funktionalität, führt allerdings in beinahe gleicher Quantität zu verzweifeltem Ordneraktionismus in der Haushaltsorganisation.

 

Bei allem Respekt aber für die Bemühungen Deutschlands um die alleinige Spitzenposition in der

Disziplin «Papierwirtschaft»: Japan ist eine klar überlegene Streitmacht auf diesem Schlachtfeld.

 

Wo man sich in Deutschland mit Ordnern, Stempeln und deren Lagerung abmüht, ist dies im japanischen Verwaltungswesen kein organisatorischer Makel, sondern ein inoffizielles Statussymbol: Je mehr Papier, desto professioneller das Erscheinungsbild. Ob Postamt oder Stadtbüro, es stapeln sich in einer beige-grauen, friedlichen Tristesse, Ordner über Ordner, unter Ordnern und mit dazwischen eingelegten Ordnern. Wo in Zeiten des Internets die Menge an Papier nach Kräften

limitiert wird, scheint in dem sonst technologisch innovativen Japan eine Raum-Zeit-Anomalie platziert zu sein.

Trotz der 4D Kinos mit wackelnden Sitzen und den handyspielenden Bahngästen, ist es in Japan für einige Firmen nicht einmal selbstverständlich, mehr als einen Computer zu besitzen – sehr auf Kosten zahlreicher E-Mail Adressen, die in der Ecke zusammengekauert ihre Existenz hinterfragen. So wird es zur absurden Herausforderung, für den persönlichen Haushalt eine Internetverbindung anzulegen, denn die Internetfirma hält Computer und damit alle

Kommunikation jenseits des Telefons für eine unbrauchbare Modeerscheinung. Auch der gängigste Zahlungsweg für monatliche Rechnungen ist dementsprechend keine Online-Überweisung, sondern ein Gang zum Tresen des nächstgelegenen Mini-Supermarkts (konbini).

 

Setzt man einen Fuss in die Stadtbüros Tokyos, so fühlt man sich gleich wie in der europäischen Heimat: Eine vorsichtige Schätzung der Wartezeit resultiert auch dort in einem

«Heute kann ich leider nicht zur Arbeit kommen, ich bin im Stadtbüro». Oft genügt schon das Wort «Stadtbüro». Wer dementsprechend versucht der japanischen Sommerhitze zu entgehen, ohne auf einen Ort innerer Einkehr verzichten zu wollen, kann den Gartenbesuch von Juli bis September gepflegt durch den ein oder anderen Amtsgang ersetzen und sich selbst überzeugen von der ehrfurchterregenden Kreativität, die der Zellulose in Japan zuteil wird.

 

Text: Angelina Frank

Bilder: Angelina Frank

            Andreas Langsdorff

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